modo Verlag Freiburg i. Br., 2016, ISBN 978-3-86833-194-3, 168 Seiten, 14 schwarzweiße Abbildungen, Broschur, Fadenheftung, Format 22,5 x 15,5 cm, € 24,90 / SFR 27,00
Der enorme Bedeutungszuwachs der Kreativbranche wird schon daran deutlich, dass heute rund eine Million Menschen in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig sind (Catalina Schröder, Will ich frei arbeiten? In. http:// www.zeit.de/campus/2013/s1/kreativbranche-berufseinstieg). Nach einer Untersuchung des Statistischen Bundesamt in Deutschland vom 1.7. 2013 haben die künstlerischen Berufe zwischen 2002 und 2012 um 101 000 Erwerbstätige und damit im Vergleich mit anderen Berufsgruppen am stärksten zugenommen. Laut Brand 1 waren 1993 81000 bildende Künstler in Deutschland erwerbstätig, 2008 waren es 180 000 (https:// www.brandeins.de/archiv/2009/kunst/kunst-in-zahlen/). Damit sind auch der Materialverbrauch und der künstlerische Ausstoß ins schier Unüberschaubare gestiegen. Der 1952 geborene Frank Michael Zeidler arbeitet seit 40 Jahren als Maler und Zeichner und weiß als Vorsitzender des Deutschen Künstlerbundes, wovon er spricht, wenn er von den allein bei Unternehmen wie Boesner vorgehaltenen Künstlermaterialien auf die Materialberge schließt, die mittlerweile in Ateliers lagern. Boesner wurde in den 1980er Jahren als kleines Geschäft gegründet und „zählt heute allein in Deutschland 30 Filialen mit ungefähr 700 Mitarbeitern […]. Das mittlerweile europaweit agierende Unternehmen ist einer der Marktführer der Branche, doch gibt es daneben in der ganzen Republik zahlreiche kleine und große Händler gleicher Prägung. Dazu kommen die Papiermühlen, die Leinenwebereien und die Farbenhersteller, die bei ständig wachsender Produktion mit steigenden Verkaufszahlen rechnen können […].
Zugegebenermaßen werden all diese Produkte nicht nur von Künstlerinnen, Künstlern und Studierenden der Kunsthochschulen verwendet. Ein Teil der Waren kommt sicherlich auch in privaten Haushalten zum Einsatz. Doch dokumentiert die Menge der produzierten Güter eine nahezu exponentiell ansteigende Flut an Künstlerbedarfsmaterialien und deren exzessiven Gebrauch, was in der Folge eine nicht mehr zu organisierende Menge an Werken der Bildenden Kunst mit sich gebracht hat und weiterhin mit sich bringt. Berücksichtigen wir darüber hinaus all die Materialansammlungen, die sich […] aus Fundstücken […] zusammensetzen, so begegnen uns im Geiste Gesamtmengen an weltweiter Kunstproduktion, die nicht mehr quantifizierbar sind. Bei aller Freude über so viel kreativen Umsatz scheint das Problem mit dem Umgang der nicht verkauften, dem Kunsthandel und der Öffentlichkeit nicht erfolgreich zugeführten Materialanhäufung völlig außer Acht gelassen worden zu sein“ (Frank Michael Zeidler S. 39 f.). Was soll mit den Arbeiten passieren, die niemand will und die sich mit dem Tod der Künstler zu Materialbergen angehäuft haben?
Die überkommene Vorstellung von der Aufbewahrung der besten Arbeiten einer Zeit in den Museen scheitert zumeist an deren begrenzter Lagerkapazität und zunehmend auch an den von der öffentlichen Hand nicht mehr bezahlbaren Marktpreisen. Welches Museum kann sich heute auch nur eines der 1382 Lose von Gerhard Richter ersteigern, die zwischen Januar 2012 und 21. Oktober 2016 bei Auktionen für sage und schreibe 1 032 158 191 USD zugeschlagen worden sind? Oder ersatzweise eines von 731 Losen von Jeff Koons, die immerhin noch 402 151 440 USD eingebracht haben? (vergleiche dazu Eileen Kinsella, Top 100 Living Artists. In: Artnet vom 24.10.2016, abgerufen am 24.10.2016). Im für die interessierte Öffentlichkeit günstigsten Fall sind diese versteigerten Objekte in zugänglichen Privatmuseen oder Stiftungen und nicht in einem der Zollfreilager von Basel, Genf, Luxemburg oder Singapur gelandet. Aber der Markt dieser „Siegerkunst“ ist trotz zahlreicher neugegründeter Privatstiftungen- und Museen eng begrenzt: Er gibt einer überschaubar kleinen Gruppe von superreichen Kunstsammlern die Möglichkeit, sich des eigenen sozialen Status zu vergewissern und sich zugleich als jemand zu stilisieren, der die Grenzen des kapitalistischen Marktes kennt und sie aushebelt. Wer die eigene Kaufkraft für ein extrem teures Kunstwerk einsetzt, zeigt zweierlei: „eine starke Geste gegen das Diktat kapitalistisch-zweckrationalen Handelns, die aber gar nicht möglich wäre, hätte man nicht zuvor genau dank dieses Handelns das Geld erworben, das man nun ausgibt. Im Kauf von Siegerkunst kann der Superreiche also die Folgen seines kapitalistischen Agierens genießen und zugleich seine Unabhängigkeit von diesem beweisen, ja sich gar zum Kritiker von Profitstreben und Effizienzdenken stilisieren. Er überhöht sich als doppelt mächtig und damit letztlich als absolut souverän: erfolgreicher als andere im Geldverdienen, mutig als andere im Geldausgeben“ (Wolfgang Ullrich, Siegerkunst, Berlin 2016, S. 33).
Das alles scheint die Mehrzahl der Künstler nicht im Geringsten anzufechten. Sie beharren auf ihren eigenen, von ihnen selbst festgelegten Regeln der Kunstproduktion, ihren eigenen Qualitätskriterien und ihren eigenen Wertvorstellungen. Und sie gehen davon aus, dass diese Regeln zumindest von einem Teil der Öffentlichkeit und der Sammler geteilt werden und ihre Werke deshalb zumindest potentiell gekauft werden könnten. „Ungezählte Jugendliche finden sich in den staatlichen und privaten Akademien und Institutionen ein, um ihren Traum vom selbstbestimmten kreativen Tun zu verwirklichen. Ungeachtet der tatsächlichen Schwierigkeiten im Beruf und den doch minimalen Erfolgschancen werden künstlerische Ideen verfolgt und riesige Materialberge angehäuft, die zu Lebzeiten finanziert und organisiert, aber auch nach dem Tod des Künstlers oder der Künstlerin eingeordnet, bewertet und verwaltet werden wollen“ (Frank Michael Zeidler S. 46). Für die jüngste Generation der Künstler ist der Markt inzwischen alles und der früher angestrebte Weg ins Museum schlicht bedeutungslos geworden: Hauptsache, sie verkaufen so viel, dass es zum eigenen Überleben mit oder ohne Zusatzeinkommen reicht. Und nachher die Sintflut?
Nicht jeder Künstler wird wie der Maler, Bildhauer und lange Jahre als Lehrer an der Universität Wuppertal tätige Wolfgang Körber (vergleiche dazu http://www.wolfgang-koerber.de/biographie/index.html) dafür Vorsorge treffen wollen, dass sein „Zeug nach“ seinem „Tod auf eine geeignete Deponie kommt“. Er habe seine Freude gehabt. „Danach spricht der Schredder. Diese Haltung hat mit Zynismus nichts zu tun. Es wäre unverantwortlich, meine Produktion der Allgemeinheit zur Aufbewahrung aufzudrängen, wenn sie von sich aus keine Absichten bekundet“ (Wolfgang Krüger in seinem Schreiben vom 19.8.2013 an Frank Michael Zeidler, zitiert nach Frank Michael Zeidler S. 82). Zeidler lässt diesen Brief ohne Kommentar stehen, versteht ihn aber als Anregung an Künstler, sich schon zu Lebzeiten mit dem eigenen Nachlass auseinanderzusetzen. Jeder Künstler sollte sich seiner Meinung nach bewusst und rechtzeitig auf den kommenden Umgang mit dem von ihm geschaffenen Werk vorbereiten. Zu dieser Vorbereitung gehört für Zeidler unter anderem die Einsicht, dass jedes ‚verlorene‘ oder weitergegebene Bild zur Metapher für einen Neubeginn werden kann, dass jedes Ordnen, Sortieren und Gewichten eines Nachlasses den Nachlassnehmern zu einem sachgemäßeren Umgang mit dem Erbe helfen kann und dass die Erben den ihnen vermachten Werken mutmaßlich nicht mit derselben emotionalen Verbundenheit begegnen werden wie der Künstler. Stiftungslösungen erfordern in aller Regel einen Kapitalstock von wenigstens ein, zwei oder drei Millionen Euro; der Erlös eines Einfamilienhauses reicht dafür nicht. Steuerliche Fragen sollten sinnvollerweise ebenso bedacht werden wie die Frage, wie mit dem Betriebsvermögen umgegangen werden soll. In seiner Checkliste formuliert es Zeidler so: „Denken Sie an das Finanzamt! Erben zahlen Erbschafts- und Umsatzsteuer. Ein Künstler, eine Künstlerin führt gegenüber dem Finanzamt einen Betrieb; wird der Betrieb weitergeführt, kostet dies Arbeitszeit und Betriebskosten. Klären Sie die Weiterführung oder eine mögliche Auflösung Ihres Betriebs mit einem Steuerberater“ (Frank Michael Zeidler S. 161 f.). Aus den 19 Empfehlungen von Zeidlers Checkliste seien noch folgende fünf Punkte eigens festgehalten: „Denken Sie über Schenkungen nach! Nicht alles wird verkauft werden. Manch einer der Freunde und Angehörigen kann sich ein Werk nicht leisten, aber um so mehr würde er sich vielleicht freuen, zu Lebzeiten eine Arbeit geschenkt zu bekommen […]. Denken Sie daran, dass manches entsorgt werden muss! Nicht alle Arbeiten können in einen Nachlass übernommen werden. Je früher Sie selbst die Entscheidung über Entsorgung und Bewahrung treffen, desto sicherer ist die Handhabe Ihres Nachlasses […]. Denken Sie an die Zukunft! Verdrängung ist ein gängiges Verhaltensmuster, wenn es um Nachlassfragen geht. Warten Sie nicht auf Krankheit, Entmündigung oder Tod. Je früher Sie mit der Reflexion über den eigenen Nachlass beginnen, desto unbeschwerter können Sie dem Nachlassproblem entgegensehen […]. Denken Sie nicht an den Wert des Nachlasses! Die Taxierung eines Nachlasses und ein möglicher Verkauf hängen von unzähligen Imponderabilien ab. Niemand kann davon ausgehen, dass seine Werke einmal teuer verkauft werden. Rechnen Sie eher damit, dass Ihr Nachlass Kosten verursacht […]. Denken Sie ans Loslassen! Ihr Nachlass wird eines Tages von anderen verwaltet werden. Ihr Werk wird einen eigenen Weg bestreiten müssen! Vertrauen Sie der Intensität Ihrer Arbeit und entledigen Sie sich der Last des Nachlasses im Loslassen“ (Frank Michael Zeidler S.163 ff.).
ham, 2. November 2016